Zeit ist eine witzige Sache. Mal läuft sie im Eiltempo davon, als hätte sie noch Besseres zutun, als sich mit uns abzugeben. Und wenn man dann endlich bereit ist und vollgepackt vor der Tür zum Leben steht, will sie einfach nicht vergehen. Die letzten zwölf Wochen, waren wohl gleichzeitig die längsten und die kürzesten meines bisherigen Lebens.

Meine Zeit bei der Schreibwerkstatt der VHS Buxtehude war ein Abenteuer. Es fing schon mit der sogenannten „Entry-Challenge“ an. Herr Kruse, mein Deutschlehrer, brachte mich darauf. Um mich zu bewerben musste ich einen kurzen Text über etwas schreiben, für das ich einstehen möchte. Herr Kruse war auch derjenige, der meinen Text zur Probe gelesen und mir Feedback dazu gegeben hat. Mein Bewerbungstext handelt von einem bitteren Schmerz, der süßen Vergangenheit und dem Schrecken der jetzigen Stunde.

Von den Bewerbern wurden ca. siebzig Jugendliche aus Deutschland und der Schweiz ausgewählt, ich war eine davon. Als dann endlich die sehnlichst erwarteten 12 Wochen begannen, schien es mir noch lehrreicher als erwartet. 

Jede Woche haben wir eine kreative Schreibaufgabe bekommen. Eine Beschreibung, ein Gedicht, ein Poetry Slam… Es war alles dabei. Konstruktive Kritik und wohlwollendes Feedback haben mich weitergebracht. Und zwar nicht nur von den Gruppenleiter:innen. Was mich so überrascht hat, waren die Teilnehmer:innen. Voller Verständnis wurden die Texte der anderen kommentiert und gelobt, es entstand eine Bindung, die, vom gemeinsamen Interesse zusammengehalten, erstaunlich stark schien.

Jede Woche fanden jeweils zwei Online-Treffen statt. Bei einem trafen wir uns in kleinen Gruppen, sprachen ausführlich über unsere Texte und gaben uns gegenseitig Feedback, ganz viel Lob und hilfreiche Tipps. Das zweite Treffen jeder Woche fand mit allen 80 Jugendlichen statt und war immer dem neuen Thema gewidmet. Cornelia Funke, Isabel Abedi und andere Autoren waren hin und wieder zugegen. Es fühlte sich beinahe unwirklich an, mit erfahrenen Autoren sprechen zu können, ihren Erzählungen zu lauschen und ihre komplexen Ideen zu verstehen. 

Wale, Feuerzeuge, Poetry Slams und ganz viel Tiefe (und eine Handvoll Insider). Es war nahezu berauschend, umgeben von Leuten zu sein, die so verschieden sind, und doch eines teilen, ein winziges Detail, das alles verändert: Das Schreiben. 

Die Texte der anderen haben mich beeindruckt, ihr Feedback hat mich weitergebracht, und ich kann kaum fassen, dass die Zeit mit diesen wunderbaren Menschen, schon vorüber ist. 

Hier ist einmal mein Bewerbungstext für alle, die neugierig geworden sind.

Schmerz

Es war mittlerweile Routine für ihn. Morgens stand er auf, zog sich an und machte seine Aufgaben. Dass er vor über einem Jahr noch dem Haus entfliehen, und bei seinen Freunden in der Schule seine Sorgen vergessen konnte, war nun kaum mehr vorstellbar. Er hatte sich damals fast befreit gefühlt, für eine kurze, und doch wunderschöne Zeit sicher vor den Fängen seines Stiefvaters. Doch seit dem Lockdown musste er den Großteil seiner Zeit im Haus verbringen. Es gab kein Entkommen mehr.

Er konzentrierte sich verbissen auf seine zu erledigende Schularbeit und versuchte verzweifelt zu verdrängen, was ihm ein weiteres Mal bevorstand. 

Er hörte das Knarzen der sich öffnenden Tür und vernahm Schritte auf dem alten Parkett. Sein Stiefvater betrat, ohne zu klopfen, das kleine Zimmer. Er zog den fauligen Geruch von Alkohol mit sich. Die Nackenhaare des Jungen stellten sich in böser Vorahnung auf. Ergeben erhob er sich, versuchte nicht einmal sich zu wehren. Jede Verweigerung seinerseits würde nur schwerwiegendere Folgen mit sich tragen. Er ertrug nicht noch mehr Schmerz, als ohnehin schon. 

„Komm her, Bursche.“, lallte Dean, der Stiefvater des Jungen, „Ich hatte einen miesen Tag.“ 

Max ging vorsichtig zu ihm herüber. Dean schien langsam ungeduldig zu werden. Er packte den Sohn seiner toten Frau am Arm und zerrte ihn ruckartig vor. Max stolperte nach vorn und fand sich direkt vor dem faltigen Gesicht seines Stiefvaters wieder. Er schluckte hart, während er vergeblich versuchte, in Dean den Mann zu sehen, der er früher gewesen war, bevor Max‘s Mutter verstorben war und Dean angefangen hatte zu trinken.

Max wurde abrupt aus seinen Gedanken an eine so viel bessere Zeit gerissen, als sein Stiefvater ihm einen Schubs gab und er taumelnd gegen den Schrank stieß. Er bereitete sich auf den Schlag vor, der unwiderruflich kommen würde. Mit geschlossenen Augen ließ er die wohlbekannte Prozedur über sich ergehen, hörte das Knacken von Knochen, als Dean’s Faust auf seine Nase traf, spürte das Brennen, als seine Hand auf Max’s Wange landete. Keuchend billigte er, dass sein Stiefvater ein Knie in seinem Magen versenkte und neigte ergeben den Kopf, während Tränen sich auf seinem Gesicht mit Blut vermischten.

Max musste unwillkürlich an seine erste Erfahrung mit Blut denken…

Der kleine Max war unsagbar aufgeregt. Heute war sein erster Tag im neuen Kindergarten. Obwohl er eigentlich gegen den Umzug gewesen war, musste er widerwillig zugeben, dass es hier wirklich unglaublich beeindruckend aussah. Das Gebäude war in allen Farben des Regenbogens gestrichen worden und der Spielplatz, den er bei der Anmeldung schon gründlich besichtigt hatte, bot viel Platz zum Spielen und Klettern. 

Seine anfängliche Begeisterung verflüchtigte sich bereits, als er mit tränenden Augen nach seiner Mutter rief. Er war beim Rennen gestolpert und hatte sich übel das Knie aufgeschürft. Die liebenswürdige Kindergärtnerin, die er anfangs so nett gefunden hatte, konnte ihn auch nicht richtig trösten. Es verlangte ihn in solch einem Moment nach seiner Mutter. Die kam auch, nachdem sie einen Anruf von der aufgewühlten Kindergärtnerin bekommen hatte und kümmerte sich sorgenvoll um ihren Sohn. Dean, ihr neuer Freund und der Grund, warum sie überhaupt erst umgezogen waren, stand den beiden dabei tatkräftig zur Seite und schaffte es letztendlich den kleinen Max mit einem Lolli und jeder Menge Umarmungen aufzuheitern. Der Fünfjährige war ihm dafür, auf seine eigene, kindliche Art, unendlich dankbar.

Während er vor seinem Stiefvater auf dem Boden kauerte, wünschte Max sich sehnlich diesen Mann zurück. Und als Dean’s Faust ein weiteres Mal auf seiner Schläfe landete, schien sein Kopf zu explodieren und seine Sicht verdunkelte sich. Er hörte Sirenen und die liebliche Stimme seiner Mutter. Er lächelte.